Die verlorene Sonne
Erzählung von Stepan Zavrel
Einst lebten die Menschen in den Wäldern. Sie standen auf bei Sonnenaufgang und gingen bei Sonnenuntergang schlafen. Und jeden Abend entfachten sie ein Feuer auf dem Berg, um der Sonne zu zeigen, wo sie am nächsten Morgen emporsteigen solle.
Mit dem Feuer gaben die Menschen der Sonne auch ein Zeichen ihrer Freundschaft. Sie war mit ihnen, wenn sie auszogen, um Holz zu schlagen oder Beeren zu sammeln, und schien noch, wenn sie abends müde in ihre Hütten zurückkehrten.
Den Kindern schaute die Sonne zu, wenn sie am Bach fischten, Murmeln warfen oder Verstecken spielten. Im Licht der Sonne wuchsen die Bäume, trieben Blätter und Blüten, und die Vögel sangen und hüpften von Zweig zu Zweig. So war es eine lange Zeit.
Aber dann verließen die Menschen ihre Wälder und bauten sich Häuser aus Stein und Mörtel. Erst kleine, dann größere und noch größere - eines neben dem andern und immer dichter zusammengedrängt.
Eines Tages blieb ein Mann auf der Straße stehen und blickte zum Himmel auf. Er sah, dass der Himmel grau war. "Was sollen wir tun?" fragte er. "Wir haben keine Sonne mehr. Es ist kalt und dunkel." Da wurden die Leute aufmerksam und schauten zum Himmel auf. Aber was sie sahen, beeindruckte sie nicht sehr. "Wir haben elektrisches Licht und auch Kohle, uns zu wärmen. Draußen können wir ja Mützen anziehen", sagten sie und gingen weiter.
In den Häusern war es wärmer, und die Leute freuten sich, dass sie es viel bequemer hatten. An ihren alten Freund, die Sonne, dachten sie aber kaum mehr. Nur noch selten entfachten sie Feuer, denn es schien ihnen sinnlos, auf die Hügel zu klettern und sich um die Sonne zu kümmern. Lieber bauten sie an ihren Städten weiter. So viel es niemandem auf, dass die Sonne immer schwächer wurde. Niemand hätte es auch sehen können, denn aus allen Kaminen stieg Rauch auf und legte sich als eine dunkle Wolke über die Stadt. Die Sonne aber, als sie merkte, dass niemand sie brauchte, wurde traurig und schritt nicht mehr über den Horizont hinaus. So wurde es plötzlich dunkel in der Stadt.
Es wurde aber noch kälter und dunkler. Bald begann es sogar zu schneien. Die Leute konnten sich kaum noch bewegen; es war dunkel, und überall lag tiefer Schnee. Jetzt erkannten die Leute, was sie verloren hatten. War es wohl schon zu spät? Die Ältesten berieten lange, was zu tun sei. Aber niemand fand eine Lösung.
Alle waren ratlos. Da kam ein sehr alter Mann und sagte: "In früheren Zeiten stiegen die Leute auf den Berg und machten Feuer, und die Sonne zu rufen und zu ehren. Warum tun wir es ihnen nicht gleich? Vielleicht kann uns das ja helfen."
Die Leute dachten nach. Und da ihnen nichts anderes einfiel, stimmten sie zu. Sie trugen Äste auf den Berg und schichteten sie zu einem riesigen Holzstoß auf. Endlich zündeten sie das Holz an. Mächtige Flammen stiegen empor und beleuchteten die Gegend. Die Leute standen ums Feuer und starrten unverwandt nach Osten, wo tiefe Dunkelheit lag. Und sie standen die ganze Nacht, und die ganze Nacht brannte das Feuer. Aber am Morgen blieb es so dunkel wie zuvor, und keine Sonne erschien.
"Mit einem Feuer kann man de Sonne auch nicht herbeilocken. Das haben wir uns gedacht", sagten sie und gingen nach Hause. Nur wenige blieben, schafften neues Holz herbei und schichteten es auf. Aber auch in der zweiten Nacht brachte das Feuer die Sonne nicht zurück. In der dritten Nacht blieb ganz allein ein Mädchen auf dem Berg. Es glaubte noch immer an die Rückkehr der Sonne und wachte sorgsam über das Feuer. "Sie wird kommen", sagte es und schaute beharrlich in die Dunkelheit hinaus. Und auf einmal rief es begeistert: "Dort kommt sie, die Sonne kommt!" Die Leute liefen vor die Stadt hinaus. "Da ist wirklich die Sonne!" jubelten sie.
Die Sonne wurde jeden Tag größer, das Eis schmolz, und aus dem Schnee streckten bald die Blumen ihre Köpfe. Die Kinder freuten sich, warfen Handschuhe und Mützen weg und gingen der Sonne entgegen. Überall grünte es, und sie tanzten, spielten und warfen Murmeln wie früher. Sie dankten der Sonne, daß sie gekommen war. Nie wieder wollten sie sie verlieren. Sie streiften voll Begeisterung durch die Gegend. Dann kehrten sie mit leuchtenden Blumensträußen in die Stadt zurück.
Wie sah es hier aus! Die Häuser waren immer noch grau, und an den Bäumen hingen nur ein paar traurige Blüten. Die Sonne, auf die sie so lange gewartet hatten, verzehrte sich in Qualm und Dunst.
Besorgt stiegen die Kinder auf die Dächer, um ihr die Blumen zu bringen. Aber die Sonne konnte sie nicht sehen. Ihr Licht drang nicht mehr durch den Qualm. Sie war ganz schwarz geworden.
"Nun haben wie sie von neuem verloren", sagten die Kinder niedergeschlagen. "Aber so kann es nicht weitergehen!"
Um das Jahr 550 berichtet der Grieche Prokopios vom fernen Thule im hohen Norden, dass dort die Sonne im Sommer 40 Tage nicht untergeht, dafür aber im Winter auch 40 Tage nicht zu sehen ist: "Deshalb erfasst in dieser ganzen Dunkelzeit eine Niedergeschlagenheit die dort wohnenden Menschen... Wenn nun 35 dieser langen Nächte vergangen sind - nach dem Lauf der Sterne und des Mondes berechnet - werden einige Leute auf die Spitze der Berge entsandt. Wenn sie von den Gipfeln aus einen Schimmer der Sonne sehen konnten, brachten sie die Botschaft den Talbewohnern, dass sich ihnen die Sonne in fünf Tagen zeigen werde. Da feierten sie das Fest der frohen Botschaft, obwohl es noch finster war. Dies ist das größte Fest der Bewohner von Thule."
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